Mayday Mayday
Wie wichtig ein Messer sein kann um lebensbedrohliche Situationen abzuwenden, habe ich in etlichen, mehr oder minder dramatischen Situationen erfahren.

Mancher wird vielleicht anmerkend fragen, warum ich diese Risiken annahm.
War es Leichtsinn? Meine Antwort lautet: Es war die schiere Lust auf Leben und Abenteuer, von denen ich nichts Erlebtes missen möchte.Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem tückischen Treibholz. Manchmal sah ich nur faustgroße Stücke oberhalb des dunklen Wassers aber wenige Handbreiten tiefer schwammen meterlange Holzstämme, tückische Fallen für mein hölzernes Boot und Garanten für einen Totalverlust.
Die Tücken „meines“ Sees kannte ich seit Jahren.
Bis zum Blockhaus mussten noch 35 Meilen mit dem alten Outborder aus den Sechzigern und dem noch älteren Boot zurückgelegt werden. Ich fuhr der tiefstehenden Abendsonne entgegen. Plötzlich polterte es erschreckend laut und das Boot vollführte eine halbe Drehung um die Längsachse. Bereits fünf Sekunden später deutete nichts mehr auf die Existenz eines Motorbootes und einer wohl sortierten Ausrüstung hin.
Mit viel Mühe konnte ich mich meiner wattierten Jacke entledigen und schwamm, wütend wie selten zuvor, an das achtzig Meter entfernte Ufer. Zunächst blieb ich ausgepumpt liegen aber nach einigen Augenblicken war ich auf den Beinen und verschaffte mir einen Überblick.
Meine ganze Habe bestand aus nasser Kleidung, meiner Geldbörse und einem alten Matrosenmesser mit dazugehörendem Wetzstahl.
Das unglückselige Treibholz bedachte ich mit einigen unflätigen Verwünschungen und ging bis zum nächsten Bachlauf, welcher sich, aus den Rocky – Mountains kommend, in den großen Williston – Lake schlängelte. Vom trockenen Rand des Bachbettes hob ich einen kopfgroßen Stein. Mit großer Wucht warf ich ihn auf einen noch größeren Stein, sodass der kleinere Stein in mehrere Stücke zersprang. Prüfend tastete ich über die raue Bruchstelle und schlug einige Male mit dem Rücken des Matrosenmessers an ihr entlang. Als sich dabei Funken von dem quartzithaltigen Stein lösten, ging ich daran Zundermaterial aus dem Pilz einer stämmigen Birke zu kratzen. Eilig zog ich mein nasses Hemd aus, stieß zwei armlange Stöcke in den weichen Boden und hing das Hemd als Windschutz darüber. Einen Schritt dahinter legte ich ein tellergroßes Stück Baumrinde auf den Boden. Auf der trockenen Rinde wurde nun ein Feuer vorbereitet. Hierzu zerpflückte ich dünne Birkenrinde zu schmalen, Streifen und kombinierte das leichtentflammbare Brennmaterial mit der nudelartigen braunen – wolligen zweiten Schicht des Baumpilzes.

Als ich nun wenige Zentimeter über der vorbereiteten Feuerstelle wieder mit dem Messerrücken gegen den Stein schlug, absorbierte der kohlenstoffhaltige Stahl kaum wahrnehmbare Funken.
Die fallenden Funken verursachten wenige dünne Rauchfäden im Feuernest. Als ich sah, dass einige Funken auf dem Zunder weiter glimmten, legte ich mich bäuchlings auf den Boden und blies vorsichtig in das empfindliche Zunderhäufchen. Nach kurzer Zeit hatte der glimmende Zunder die Rindenstreifen soweit erwärmt, dass sich kleine Flämmchen bildeten.
Als nächste Nahrung verabreichte ich dem kleinen Feuer einige Strähnen trockener Baum – flechten, sie hingen wie Lamette an den Bäumen. Etliche streichholzstarke, abgestorbene Ästchen der umstehenden Douglasien stabilisierten die empfindliche Flamme. Nach einer knappen Stunde hatte ich meine Kleidung soweit getrocknet, dass sie wohl noch dampfte aber bereits angenehm zu tragen war.
In der Zwischenzeit hatte ich einen mannshohen Stock aus einem Strauch geschnitten und in dessen dickerem Ende eine handbreite, u – förmige Kerbe geschnitten. In diese zangenartige Vorrichtung klemmte ich den Griff meines Matrosenmessers, dann umwickelte ich das Stockende und den Messergriff mit dünnen, flexiblen Fichtenwurzeln.
Nun besaß ich eine Lanze, eine primitive Jagdwaffe aber richtig eingesetzt, konnte sie mich vor Hunger und dem damit verbundenen Kraftverlust bewahren.
Ich hielt nach einer grasbewachsenen Lichtung Ausschau und hegte dabei die Hoffnung, dort nach Sonnenuntergang ein Tier anzutreffen um es zu erlegen.
In Steinwurfweite sah ich zwei unbekümmerte Stachelschweine watscheln. Als sie mich bemerkten beschleunigten sie ihre eigenartige Gangart, eines verschwand im Dickicht, das andere, etwas größere Stachelschwein rannte auf eine große Fichte zu. Ich sprintete hinterher und war schneller als mein stachelbewehrtes Wunschobjekt.
Als das Tier die nahe Gefahr bemerkte, blieb es abrupt stehen und wendete mir das stachelige Hinterteil zu. Mit dieser Abwehrhaltung hatte es sich bisher alle großen Bedrohungen vom Leib halten können. Als es von der Lanze durchbohrt wurde, schlug es noch einige Male kraftvoll aber ergebnislos mit dem kräftigen, stacheligen Schwanz gegen den Lanzenschaft.
Nachdem ich die ersten Bissen des gerade gegrillten Oberschenkels gegessen hatte, fand ich die Mahlzeit zwar etwas seltsam aber doch wohlschmeckend, der Geschmack des Rindenfressers erinnerte mich an die Stallhasen meines Freundes Bruno.
Einige Oldtimer und die Buschleute nannten das Stachelschwein respektvoll „the lost man’s food“ (des verirrten Mannes Nahrung). Ich gelobte mir, nie mehr über das plump wirkende Tier zu scherzen.
Nach der Mahlzeit zog ich das Messer einige Male über den Wetzstahl und kappte einige Fichtenäste. Einen Meter vom Feuer entfernt, baute ich mir mein „Lean – to“ eine Behelfsunterkunft, die den böigen Wind vom Feuer und eventuellen Regen von mir abhalten sollte. Eine fußhohe Unterlage aus federnden Ästen brachte mir einen relativen Komfort. Mein Hemd hatte ich bis zum Hosengürtel geöffnet und die entblößte Brust dem Feuer zugewandt.
Als das Feuer nach einer knappen Stunde fasst niedergebrannt war, wurde ich durch die fehlende Wärme an meiner Brust geweckt. Ohne mich aufzurichten nahm ich einige armdicke Knüppel, die ich hinter meinem Kopf aufgeschichtet hatte und warf sie in die Glut. Nach wenigen Minuten loderten die Flammen auf’s Neue und die behagliche Wärme ließ mich wieder einschlafen. Noch fünfmal wurde mein Schlaf auf diese Weise unterbrochen.
Beim ersten Morgenlicht weckte mich das zirpende Geschimpfe eines neugierigen Eichhörnchens. Wie schon so häufig, räumte ich auch nun das Feld vor diesem lästig – lauten Zeitgenossen, der die gesamte Umgebung wegen des soeben entdeckten Menschen in Aufruhr versetzte.

Zwei Tage lang folgte ich den ausgetretenen Wildpfaden am Seeufer, dabei musste ich drei Flüsse und dutzende Bächen durchqueren, dann stand ich endlich in der Blockhütte.
Auf dem Tisch stand ein Paket. Rick der Buschpilot musste es wohl dort hinterlassen haben. Meine Freundin im fernen Europa hatte mir das Paket zum Geburtstag geschickt. Neben den selbstgestrickten Socken fand ich darin ein wunderschönes Messer. Ein Jahr zuvor hatte ich das Messer entwickelt und nun hielt ich das beeindruckende Stück in den Händen. Es trug die Seriennummer
001. „Danke“ sagte ich zu meiner imaginären Freundin. Ich zog das alte Matrosenmesser aus der Scheide und hielt es in der rechten Hand, während die Linke das neue Messer hielt. Die Klinge des alten Messers war durch häufiges Schärfen schon um einiges schmaler geworden, auch das Funkenschlagen hatte hässliche Riefen und gravierende Spuren hinterlassen. Eine Schönheit bist du nicht gerade dachte ich u. legte beide Messer auf den Tisch.
Die Strapazen der letzten Tage ließen mich auf dem demontierten Autositz einschlafen, doch der lästige Stich eines Mosquitos holte mich verärgert zurück. Gewohnheitsmäßig griff ich nach meinem alten Matrosenmesser, zerschlug mit der flachen Klinge zwei Mosquitos auf meinem linken Unterarm und steckte es wieder in die zerschlissene Gürtelscheide.
Mittlerweile sind viele Jahre vergangen und ich habe mich an das neue Messer gewöhnt. In prikären Situationen hat es mir neben der klassischen Nutzung auch als Meißel, Steighilfe, Klemmkeil, Lanzenspitze und Wurfanker gedient aber das Dasein an meiner Seite hat auch unübersehbare Abnutzungsspuren hinterlassen. Die raue Praxis weckte in mir Wünsche und kreative Ideen und Demut.